6 Dinge, die ihr bei Interviews mit chronisch kranken und/oder behinderten Menschen beachtet solltet

Ein kleiner Leitfaden aus aktuellen Anlässen.

1. Vorbereitung

Viele chronisch kranke Menschen müssen ihren Tag sehr genau planen und ihre Energie gut einteilen.
Lest gern etwas zur Spoon Theory/Löffeltheorie, falls euch das kein Begriff ist.
Wenn es nicht gerade um eine Stellungnahme zu einem sehr aktuellen Vorfall geht, plant bitte entsprechend und erwartet nicht, dass wir schon am Tag eurer Anfrage innerhalb von 2 Stunden ein Interview geben können.

2. Kommunikationswege

Wir haben unterschiedliche kommunikative Voraussetzungen und Bedürfnisse.
Nicht alle von uns können (immer gut) in Lautsprache kommunizieren.
Nicht alle von uns können (immer gut) schreiben.
Nicht alle von uns können (immer gut) (zu)hören.
Nicht alle von uns können (immer gut) (zu)sehen oder lesen.

Bitte bedenkt das bei eurer Anfrage und bietet unterschiedliche Kommunikationswege an.
Fragt, was am besten für die jeweilige Person funktioniert, und seid bereit, unter Umständen das Kommunikationsmittel zu wechseln.
Stellt euch auch darauf ein, Wörter zu erklären, Fragen umzuformulieren oder eure Sprechweise anzupassen.

Besonders bei einem Interview zum Thema Behinderung und Barrierenabbau ist es ziemlich seltsam, wenn schon das Interview selbst voll davon ist. Wenn ihr zumindest grundlegende #BeHindernisse kennt und Barrierefreiheit auch umzusetzen versucht, zeigt das, dass ihr das Thema ernst nehmt. Gebt uns und euch die Möglichkeit, Dinge nuancierter zu betrachten, anstatt uns in eine Situation zu bringen, in der wir nur über Grundlagen sprechen können – oder sie euch erklären müssen, um überhaupt auf eure Fragen antworten zu können.

3. Kommunikationsmuster

Bietet an, die Fragen vor dem Interview zu verschicken, falls das Interview nicht sowieso schriftlich stattfindet. 
Fragt, ob die interviewte Person weitere Bedürfnisse an den Austausch hat (das könnte bei einem längeren Interview in Echtzeit zum Beispiel eine kurze Pause nach 15 Minuten sein).
Ihr macht es damit besonders neuroatypischen/neurodivergenten Menschen einfacher, eure Fragen zu beantworten und erspart auch euch selbst Zeit und Arbeit, wenn ihr uns die Möglichkeit gebt, uns vorzubereiten. Einiges ist persönlich oder hat emotionale Bedeutung und es kann sehr stressig bis bedrohlich sein, mit intimeren Fragen überrumpelt zu werden. 

4. Selbst- vs. Fremdbezeichnungen

Erfragt vor dem Interview, welche Selbstbezeichnungen Menschen für sich verwenden.
Manche bevorzugen Person-First Language („Mensch mit Behinderung“), andere bevorzugen Identity-First Language („behinderter Mensch“).
Übernehmt die Bezeichnung in eure Fragestellung und euren Artikel. 
Das gilt auch für alle anderen Formen der Marginalisierung. Fragt aktiv nach weiteren Selbstbezeichnungen, aber verlangt keine Erklärung dafür, warum ein Mensch diese Wörter für sich wählt.

5. Respekt gegenüber unserer Zeit, Energie und der Art, wie wir kommunizieren

Bitte bringt allen Kommunikationsformen den gleichen Respekt entgegen!
Sagt auch dann „Danke für das Interview!“ oder „Danke für deine Antworten!“, wenn ihr sie nicht im direkten Gespräch, sondern schriftlich bekommen habt.
Es ist unhöflich und unangemessen, nicht zumindest eine Eingangsbestätigung zu verschicken.
Zudem haben manche von uns Konzentrationsstörungen, brain fog[1], OCD oder Ähnliches.
Ihr erspart uns viel Stress, wenn ihr euch kurz rückmeldet und uns einen Überblick über die nächsten Schritte und ungefähren Zeitfenster gebt, damit wir entsprechend planen können. 

Wir machen sowieso schon oft die Erfahrung, dass unsere Bedürfnisse, Leistungen und Kenntnisse nicht gewürdigt werden.
Bitte wisst es zu schätzen, wenn wir euch unsere Ressourcen zur Verfügung stellen.

6. Diskriminierungsfreie Sprache

Es ist super cool, wenn ihr uns Texte vor der Veröffentlichung schickt und uns die Möglichkeit gebt, zu überprüfen, ob unsere Aussagen richtig wiedergegeben und Selbstbezeichnungen passend verwendet wurden.
Manche von uns sind politisch aktiv, befassen sich auch mit Sprache und wollen dann natürlich nicht, dass ein Artikel, in dem wir vorkommen, diskriminierende Formulierungen enthält.
Wenn euch auch etwas daran liegt, nutzt unser Engagement und unsere Kenntnisse nicht aus, sondern bezahlt uns für unsere Arbeit.
Marginalisierte Menschen sind nicht eure kostenlosen sensitivity reader!

00. Überraschung!

Beachtet diese Punkte bei allen Interviews, die ihr durchführt.
In vielen Fällen wisst ihr gar nicht, dass ihr gerade eine*n von uns interviewt oder interviewen wollt.





[1] Brain fog, auf deutsch „Kopfnebel“, beschreibt ein neurologisch-kognitives Symptom, das sich wie Nebel im Kopf anfühlt und oft mit weiteren Symptomen wie Konzentrationsstörungen, Wortfindungsstörungen, Gedächtnisproblemen und Desorientierung einhergeht.



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